Im März und April war Patrick Münz sieben Wochen für die deutsche Hilfsorganisation Cadus in Gaza, zwei davon als Einsatzleiter. Vor einer Woche ist er zurückgekommen, zum Interview sitzt er in einem Café in Berlin-Kreuzberg. Münz bestellt sich einen Kamillentee, er sieht müde aus.

ZEIT ONLINE: Herr Münz, welche der Patienten, die Sie vom Norden in den Süden des Gazastreifens gebracht haben, gehen Ihnen nicht mehr aus dem Kopf?

Patrick Münz: Ein achtjähriges Mädchen, das an Leukämie erkrankt ist und über Wochen oder sogar Monate nicht richtig behandelt werden konnte. Oder der sechsjährige Fadi, der aufgrund akuter Mangelernährung nur noch aus Haut und Knochen bestand. Bei den beiden war nicht klar, ob sie den Transport in den Süden überleben. Der ganze Norden des Gazastreifens wurde zerstört, die Straßen sind teilweise nur sehr schlecht befahrbar, überall liegt Geröll.

ZEIT ONLINE: Wie geht es den beiden jetzt?

Münz: Sie werden in Kairo behandelt. Die Ärztinnen aus unserem Team haben uns aber darauf vorbereitet, dass es sein kann, dass sie trotz der Behandlung nicht überleben.

ZEIT ONLINE: Wie viele Menschen konnten sie bisher aus dem Norden in den Süden bringen?

Münz: Insgesamt 22 Personen. Die Patientinnen werden vorab von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgewählt, wir bereiten dann gemeinsam ihre Evakuierung vor. Ursprünglich wurde diese Arbeit vom Palästinensischen Roten Halbmond ausgeführt. Die haben ihre Evakuierungseinsätze aber ausgesetzt, weil sie laut eigenen Angaben zu häufig vom israelischen Militär beschossen wurden.

ZEIT ONLINE: Können Sie alle ihre Einsätze erfolgreich zu Ende bringen?

Münz: Wir würden gerne viel mehr Menschen evakuieren, aber das israelische Militär genehmigt nur circa 60 Prozent unserer Evakuierungsanfragen. Und selbst wenn das der Fall ist, müssen die Einsätze häufig abgebrochen werden, weil das Militär uns doch keine Freigabe für die Fahrt in den Norden erteilt. Dann heißt es oft, dass die Weiterfahrt aufgrund von laufenden Militäroperationen nicht möglich sei.

ZEIT ONLINE: Wie läuft so eine Evakuierungsfahrt ab?

Münz: Sobald die Mission genehmigt wurde, bekommen wir von der israelischen Armee eine Route und Uhrzeit, zu der die Evakuierung stattfinden darf. Das heißt aber nicht, dass man dann entsprechend des vorgegebenen Plans einfach losfahren kann. Soll die Mission zum Beispiel um 7 Uhr beginnen, muss die Fahrt kurz davor noch mal über das Koordinatensystem des israelischen Militärs bestätigt werden. Erst nachdem man dafür grünes Licht bekommen hat, fährt man los, von Wartepunkt zu Wartepunkt, bis man schließlich zu einem von zwei Checkpoints kommt, die den Norden vom Süden trennen. Bei einer Mission waren wir gerade an einem der Wartepunkte als 200 Meter von uns entfernt eine Rakete eingeschlagen ist.

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ZEIT ONLINE: Am 2. April sind insgesamt sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei einem Angriff auf einen Konvoi der Hilfsorganisation World Central Kitchen vom israelischen Militär getötet worden. Sie waren zu dem Zeitpunkt in Gaza. Hat Ihre Organisation danach darüber nachgedacht, ihren Einsatz zu beenden?

Münz: Das haben wir auf jeden Fall in Erwägung gezogen. Der Konvoi von World Central Kitchen wurde nachts angegriffen, wir haben uns als Reaktion darauf dazu entschlossen, nachts keine Einsätze mehr zu fahren. Oder überlegt, wie wir unsere Autos noch besser kennzeichnen können. Eigentlich sind sie das aber ausreichend. Auch die Fahrzeuge von World Central Kitchen waren sehr gut gekennzeichnet. Jede unserer Fahrten ist mit dem israelischen Militär abgestimmt und wir erwarten, dass humanitäre Organisationen besonders geschützt werden.

ZEIT ONLINE: Was haben Sie auf Ihren Fahrten in den Norden gesehen?

Münz: Hinter dem Checkpoint liegen immer wieder Leichen, auch Frauen. Es riecht nach Verwesung. In einem Fall durften wir eine Leiche mitnehmen, die wir dann an den Palästinensischen Roten Halbmond übergeben haben. Der ganze Norden ist de facto zerstört worden, überall liegt Schutt.

ZEIT ONLINE: Welche Menschen sind Ihnen begegnet?

Münz: Viele der Menschen sind völlig ausgehungert. Ihre Gesichter sind eingefallen, der Hautton fahl und blass. Es herrscht eine gespenstische Stimmung. So etwas habe ich bisher noch nie gesehen. Im Norden Gazas versteht man, was es heißt, wenn Menschen verhungern.

ZEIT ONLINE: Haben Sie bereits Situationen erlebt, in denen es für Sie gefährlich wurde?

Münz: Bei einer Fahrt in den Norden sind uns auf einmal um die 1.000 Männer entgegengerannt, die dachten, wir würden Lebensmittel transportieren. Die haben sich teilweise an unsere Autos gehängt, das war schon eine sehr angespannte Situation. Mithilfe eines palästinensischen Kollegen konnten wir ihnen dann aber klarmachen, dass wir da sind, um Schwerstkranke in den Süden zu bringen. Das hat die Gruppe akzeptiert, und die Situation hat sich entspannt. Wir haben daraus aber gelernt. Wir fahren jetzt zum Beispiel immer erst nach der Lieferung von Lebensmitteln in den Norden und nicht mehr kurz vorher. Dann kommt es nicht zu diesen Situationen. Die Menschen sind einfach verzweifelt, sie haben Hunger.

ZEIT ONLINE: Wie unterscheidet sich die humanitäre Situation im Norden von der im Süden?

Münz: In Rafah gibt es Märkte, auf denen Lebensmittel verkauft werden. Da wird in Teilen auch noch Landwirtschaft betrieben, es werden zum Beispiel Tomaten geerntet. Es gibt auch im Süden Menschen, die nicht genug zu essen bekommen, auch hier gibt es zu wenig humanitäre Hilfe. Aber die Versorgungslage ist nicht so dramatisch wie im Norden. Meinem Eindruck nach zu urteilen, haben die Hilfslieferungen in den Norden zwar leicht zugenommen, es reicht aber trotzdem bei Weitem noch nicht aus.

ZEIT ONLINE: Im Süden, in Chan Junis, unterstützen Sie im Rahmen ihres Einsatzes auch einen Traumastabilisierungspunkt des Palästinensischen Roten Halbmonds. Wie sieht ihre Arbeit dort aus?

Münz: Wir helfen palästinensischen Kollegen bei der Versorgung von akuten Notfällen. Wir haben dafür ein sehr spezialisiertes Team von Medizinerinnen. Der Stabilisierungspunkt liegt rund zwei Kilometer von der aktiven Kampfzone entfernt.

ZEIT ONLINE: Wie kommen die Verletzten zu Ihnen?

Münz: In der aktiven Kampfzone ist eine Rettung mit einer Ambulanz de facto nicht möglich. Wir haben es einmal versucht, sind dann aber von israelischen Panzern festgehalten worden. Wir können also nur diejenigen versorgen, die es zu uns schaffen. Sie werden teilweise auf Eselskarren zu uns gebracht. Das sind immer noch viele, aber bei Weitem nicht alle. Seit Beginn unseres Einsatzes haben wir circa 1.300 Verletzte notversorgt.

ZEIT ONLINE: Welche Verletzungen sehen Sie am häufigsten?

Münz: Viele haben Schuss- oder Schrapnellverletzungen, andere Knochenbrüche. Wir haben auch schon Patienten behandelt, auf die beim Einsturz eines Hauses ganze Wände gefallen sind.

ZEIT ONLINE: Die israelische Armee gibt an, dass ihre Militäroffensive auch im Süden, in Rafah, kurz bevorsteht. Was würde das für Ihre Arbeit bedeuten?

Münz: Ich befürchte, dass sich viele Hilfsorganisationen dann dazu entschließen, ihre Arbeit einzustellen. Wenn selbst in Rafah, wo auch jetzt schon zunehmend aus der Luft angegriffen wird, die Sicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr gewährleistet werden kann, sehe ich schwarz. Das würde eine dramatische Verschlechterung der humanitären Situation bedeuten.

ZEIT ONLINE: Sie waren auch schon für insgesamt ein Jahr an der Frontlinie im Osten der Ukraine im Einsatz – wodurch unterscheidet sich die Situation in Gaza von der in der Ukraine?

Münz: Ich war noch nie in einem Kriegsgebiet, in dem es im Verhältnis zu der Gesamtbevölkerung so viele Kinder gibt. Man sieht überall Kinder, im Norden genauso wie im Süden. Es ist unerträglich, was die erleben. Ich kann mir kaum vorstellen, wie diese Kinder irgendwann wieder dazu in der Lage sein sollen, ein normales Leben zu führen.